Der Mediationsblog: Wissenswertes über Mediation und Streitbeilegung
Ghosting – ein Beweis für die allgemeine Tendenz zur Wegwerfgesellschaft?
In den letzten Jahren hat sich ein neues Phänomen in der Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt – das sogenannte "Ghosting". Dabei handelt es sich um das plötzliche und unerwartete Verschwinden einer Person aus dem Leben einer anderen, ohne jegliche Erklärung oder Abschied. Dieses Verhalten wird vor allem im Kontext von Dating-Beziehungen beobachtet, kann aber auch in Freundschaften oder sogar beruflichen Beziehungen auftreten. Die Frage, die sich hier stellt, ist: Ist Ghosting ein Beweis für die allgemeine Tendenz zur Wegwerfgesellschaft?
Was ich nicht mehr brauche, das schmeiße ich einfach weg! So einfach ist der Gedanke, wenn es um alte Möbel, Essen, Kleidung, Bücher oder Kleinkrams geht. Stünden Oma und Opa direkt daneben, so würden sie wahrscheinlich mit vehement erhobenem Zeigefinger ihr Veto einlegen und mit den Worten mahnen, dass dieses und jenes durchaus noch zu gebrauchen ist, mit etwas Mühe repariert werden kann oder eben jemand anderem eine Freude machen sollte. Während unsere Großeltern noch in der Zeit der „Reparaturgesellschaft“ aufblühten, die sehr bedächtig mit Ressourcen umgegangen ist, befinden wir uns heute im Zeitalter der Wegwerfgesellschaft. Wir schmeißen alles in den Müll, geben einfach auf und haben verlernt, was Werte überhaupt bedeuten.
Was ist für uns überhaupt noch ein Wert? Wer ist uns etwas wert? Und vor allem: wie viel?
Womit sich schon die alten griechischen Philosophen im Rahmen der Axiologie beschäftigten, ist uns heute nur noch ein stirnrunzelndes Schulterzucken WERT. Auch wenn wir mit unserem fragwürdigen Verhalten vorsätzlich sowie fahrlässig der Umwelt schaden und soziale Kompetenzen bis zum Grad des Fremdschämens einbüßen, ist es mit das Schlimmste, dass diese Grundhaltung mittlerweile auch die zwischenmenschlichen Beziehungen erreicht hat.
Ghosting – so heißt nämlich der neue Wegwerftrend in Beziehungsdingen, der nur wenig mit echten Geistergeschichten zu tun hat. Treffender erscheint der Ausdruck des „feige aus dem Staub Machens“. Gruselig ist Ghosting trotzdem, weil der Partner oder der Freund plötzlich weg ist, keine Spuren hinterlassen hat, nicht mehr erreichbar ist und sich auch nicht mehr meldet. Dies, weil die die Beziehung ermüdet und der andere überdrüssig geworden ist. Er ist es nicht mehr wert (!), das Ende der Beziehung in aller Fairness persönlich zu erklären. Vielleicht wurde in der Zwischenzeit aber auch bereits Ersatz besorgt, der sämtliche Zeit in Anspruch nimmt, was keinen Raum für eine vernünftige Beendigung der Beziehung lässt. Manchmal ist Ghosting jedoch auch nur eine Art der Hinhaltetaktik.
Ghosting ganz ohne Vorankündigung?
Haben Betroffene wahrgenommen, dass sie nach Ghosting-Manier verlassen worden sind, sind Überraschung und Verwirrung zunächst groß. Psychologen sind jedoch der Meinung, dass sich dieses Verhalten schon im Laufe der Beziehung abzeichnet. Alte Streitigkeiten und unausgeglichene Machtverhältnisse spielen dabei eine große Rolle. Menschen, die ihren Partner auf diese impulsive und extreme Weise hinter sich lassen, versuchen dadurch, die Machtverhältnisse wieder auszugleichen und auf eine Augenhöhe mit dem Partner zu kommen.
Befragte Ghoster geben an, dass sie jemanden auf die Art verlassen haben, weil sie sich unterschiedlich entwickelt haben, die Beziehung zu kompliziert geworden ist, sie sich schlecht behandelt fühlten, neidisch waren oder einfach kein Interesse am anderen mehr vorhanden war. Viele wollen sich schlicht nicht festlegen oder hatten Angst, Entscheidungen zu treffen. Was aber alle Ghoster scheuten, war ein klärendes Gespräch. Die Furcht, in einer Aussprache zu „unterliegen“ ist bei vielen Menschen also so groß, dass sie sich lieber von heute auf morgen komplett abwenden und das Weite suchen. Eine vernünftige Kommunikation findet scheinbar kaum noch statt.
Kommunikationsdefizite dank Internet?
Zwischenmenschliche Beziehungen – egal, ob als Paar oder in einer Freundschaft – sind heute anders als vor 20 bis 30 Jahren. Ein Großteil unserer Kommunikation findet heute über WhatsApp, Instagram, Facebook und andere soziale Plattformen oder Messenger statt. Und im Internet erlauben wir uns bekanntlich Dinge, die wir uns im realen Leben gar nicht zutrauen würden.
Mit einem Wisch über das Display entscheiden wir bei der Dating-App Tinder, ob uns ein Mensch gefällt oder eben nicht. Wir brechen Unterhaltungen auf diversen Plattformen einfach ab, wenn uns irgendetwas nicht in den Kram passt. Schließlich haben wir dank des Internets ja eine riesige Auswahl an Menschen, mit denen wir uns beschäftigen können. Und wo es eine Auswahl gibt, ist die Abwahl nicht fern. Wer sich das mal zu Gemüte führt, wird sicherlich darüber nachdenken, wann der Mensch zum Produkt geworden ist, dass sich bestellen, abbestellen oder einfach zurückschicken lässt.
Selbst sexuelle Abenteuer und Fremdgängereien lassen sich mittlerweile problemlos über die Dating-Apps in die Wege leiten, was aus einem ursprünglichen Tabu ein normales gesellschaftliches Verhalten gemacht hat.
Folgen für das soziale Miteinander
Statt offen über Interessen und Probleme zu reden, wird unangenehmen Gesprächen aus dem Weg gegangen. Es ist ja auch viel einfacher, einen Kontakt einfach ohne Vorwarnung abzubrechen. Das emotionale Risiko, zu seinem Gegenüber „nein“ zu sagen, lässt uns unsere Erziehung vergessen. Wir gehen lieber nicht offen mit unseren Gefühlen um, sondern lassen Menschen besser gleich fallen, damit wir selbst nicht mit Enttäuschungen, Verletzungen und nicht erfüllten Erwartungshaltungen konfrontiert werden.
Was das jedoch für denjenigen bedeutet, der so verlassen wurde, kennen wir von Mobbingopfern: Sie fühlen sich ausgegrenzt, gehören nicht mehr dazu und haben bei so beendeten Liebesbeziehungen mehr als nur Liebeskummer. Was viele Opfer dazu sagen? Ghosting reißt Löcher ins Herz!
Gleichzeitig werden dadurch unsere Ansprüche an unsere Freunde und Partner immer größer. Wir werden immer unsicherer, wer und was das Beste für uns ist. Und dennoch steht unser privates Glück an erster Stelle und verlangt nach einer Bindung. Verbleiben wir in dieser Denkweise, werden wir zu austauschbaren Beziehungsängstlichen. Dank der guten Vernetzung ist die Auswahl ja groß, sodass wir uns alle Wünsche erfüllen können.
Wann haben wir verlernt, miteinander zu sprechen?
Die Mediationspraxis besteht zu einem Großteil aus Kommunikation. Mediation hilft weiter, wenn sich Konflikte festgefahren haben und Menschen nicht mehr in der Lage sind, ohne Anleitung ihre Streitigkeiten selbst auszuräumen. Der Wille dazu muss bei einer Mediation jedoch vorhanden sein, da diese immer freiwillig ist. Wird jemand durch Ghosting verlassen, ist beim Ghoster wohl kaum von irgendeiner Art der Kommunikationsbereitschaft auszugehen. Der Verlassene hingegen hätte wahrscheinlich gerne noch einmal darüber geredet.
Ein Mediator beherrscht Kommunikationstechniken, die die Parteien wieder ins Gespräch bringen. Denn erst dann wird es möglich, sich auch mal in die Lage des anderen zu versetzen und über den Tellerrand zu blicken. Geschieht dies, ist ein Kompromiss oder eine Konfliktlösung wieder in erreichbare Nähe gerückt.
Häufig wird unterschätzt, was ein Streitgespräch oder eine verbale Auseinandersetzung uns geben kann. Es verlangt Mut, zu sagen, was mir nicht passt. Es kann aber auch wehtun, wenn es Vorwürfe hagelt. Aber dennoch erlangen wir eine enorme geistige Reife, wenn wir einen Streit vernünftig lösen konnten. Und ganz ehrlich: es macht uns doch auch ein wenig stolz, wenn wir Dinge repariert bekommen, statt sie wegzuwerfen, oder? Durch eine faire Auseinandersetzung haben wir bemerkt, dass wir ruhig Fehler eingestehen dürfen und zu Kompromissen fähig sind. Außerdem haben wir gelernt, anderen Menschen und anderen Meinungen unsere Wertschätzung entgegen zu bringen. Und da ist er wieder, der „Wert“, den wir einem Menschen und seinen Emotionen nach ethischen und moralischen Grundsätzen beimessen sollten.
Wenn wir nämlich vernünftig miteinander kommunizieren, haben wir soziale Unarten wie Ghosting gar nicht erst nötig.
Zusammenfassung
- Ghosting beschreibt das plötzliche Abbrechen der Kommunikation ohne Erklärung
- Häufig in Beziehungen oder Freundschaften
- Psychologen sehen vorherige Konflikte und Machtungleichgewichte als Vorzeichen
- Ghoster vermeiden konfrontative Gespräche aus Angst vor Konsequenzen
- Digitale Welt erleichtert Ghosting durch unpersönlichere Interaktionen
- Führt zu Problemen im sozialen Miteinander und macht Menschen austauschbarer
- Mediation als mögliche Lösung
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