Der Mediationsblog: Wissenswertes über Mediation und Streitbeilegung
Deine
Jeder hat sicherlich schon einmal diese Situation erlebt oder zumindest beobachtet. Oder kann sie sich vorstellen. Es ist eine archaische Szene. Eine Szene aus Kindertagen. Zwei Kinder stehen sich gegenüber. Sie haben ein Spielzeug in der Hand. Beide. Dasselbe. Denn sie haben es zwischen sich, jeder an einer anderen Seite und versuchen nun, es zu sich zu ziehen, die Macht zu erlangen, über das Spielzeug oder den anderen, was oft zusammenfällt. Sie rangeln sich um dieses Spielzeug. Eine Puppe, einen Bagger, um das Polizeiauto mit der großartigen rotierenden und blinkenden Sirene. Das besonders hübsche Malbuch, das das eine Kind zuerst ausmalen wollte. Endlos ist die Reihe dessen, um was es gehen könnte.
Doch das immer gleiche ist, was die Kinder sagen. Sie zerren am Spielzeug und rufen „Meine!“ „Nein, meine!“ „Stimmt nicht, das ist meine!“ „Meine, meine, ich hatte es als erstes. Es ist meine!“
So kann das lange gehen. Bis besorgte Eltern beschwichtigend einzugreifen versuchen. Oder ältere Geschwister herzhaft, manchmal auch rabiat die Situation klären, in dem sie es den beiden aus der Hand nehmen und sagen „Meine!“ Manchmal warten auch Pädagogen mit mehr innerem Abstand länger ab, vertrauen auf die selbstregulierende Kraft des kindlichen Ausprobierens, das ja schulen soll fürs Leben. Oder eben – das Spielzeug geht kaputt. Das Malbuch zerreißt unschön in zwei Hälften, dem Bagger fliegt der bewegliche Schaufelarm davon, das Polizeiauto kracht zu Boden und aus ist’s mit Martinshorn und Blaulicht. Genau wie in E.T.H. Hoffmanns „Nussknacker und Mauskönig“ (1816), wo der Nussknacker seine Arme verliert im Streit mit dem ungebärdigen Bruder Fritz am Weihnachtsabend. Und Clara den Versehrten pflegt und hütet, bis er durch wundersame Macht und Magie zum Leben erwacht und einen gefährlichen Kampf mit Heerscharen von Mäusen führt, bis er schließlich nach seinem Sieg Clara mit sich in sein Land, ins Reich der Zuckerfee nimmt.
Was würde nun passieren, wenn eines der Kinder nach dreimal „Meine!“ schreien, plötzlich riefe „Deine!“ ?
Der Streit und jegliche Grundlage für Aggressionen wäre wie weggeblasen. Das verblüffte andere Kind würde große Augen machen und vielleicht sogar noch ein fast unbewusstes „Danke“ über die Lippen bringen. Es wäre überrascht,verwundert. Denn genau das ist es. Ein kleines alltägliches Wunder. Magie auch hier. Das „deine“ enthält die vollkommen freiwillige Übergabe von etwas Eigenem an einen anderen, samt der dazugehörigen Geste: des Gebens.
Es ist das Gegenteil von „meine“, das Besitz determiniert, abgrenzt. Doch auch eingrenzt. Und uns selbst mittendrin.
Wie oft sitzen wir oder bewegen uns in einem Kreis und manchmal auch innerhalb einer Burg von lauter hoch hinauf gestapelten mit „meine“ etikettierten Dingen, Meinungen und manchmal sogar Menschen. Mit einer verengenden, verkleinernden Geste ziehen wir jenes an uns heran, wenn wir sagen „Meine!“
Doch die Geste beim „deine“ ist eben eine andere, eine sich öffnende, raumgreifende, wenn wir dem anderen etwas überlassen, schenken, geben. „Hier nimm es. Es ist jetzt deine.“ Es ist eine Geste, in der wir groß werden. Außen und innen. Und die gleich noch Platz bietet für eine weitere, die der ersten ähnelt: für die Umarmung.
© 2020 Manuela Schreiber
Wenn Sie den Blog abonnieren, senden wir Ihnen eine E-Mail, wenn es neue Updates auf der Website gibt, damit Sie sie nicht verpassen.